«Vivi, wie schlimm ist es, wenn ich dieses Mal nicht abstimme?» Die Frage eines eigentlich politisch interessierten Kollegen hat mich kürzlich etwas aus der Bahn geworfen. Meine erste Reaktion war klar: Natürlich ist es schlimm, wenn man nicht abstimmt! Besonders, wenn es um wichtige Themen wie den Schutz der Biodiversität oder die BVG-Reform geht. Doch seine Antwort war schnell und schlagfertig: „Für dich ist immer alles wichtig. Aber ich habe einfach keine Lust mehr, mich ständig in komplexe Vorlagen einzulesen, vor allem, wenn im Nachhinein doch wieder Zahlen korrigiert oder Falschmeldungen aufgedeckt werden. Das Abstimmen lohnt sich nicht mehr.“
Lohnt sich Abstimmen wirklich?
Diese Haltung wirft eine grundsätzliche Frage auf: Muss sich Abstimmen tatsächlich „lohnen“? Meiner Meinung nach ist das „sich lohnen“ hier nicht der richtige Massstab. Abstimmen muss sich nicht in einem unmittelbaren, messbaren Nutzen widerspiegeln – es ist ein Privileg. Ein Privileg, das es in dieser Form kaum irgendwo anders auf der Welt gibt. Es ermöglicht uns, über Sachthemen unabhängig von den Parteipositionen unsere Meinung zu äussern. Wir können eine Partei wählen, aber bei bestimmten Vorlagen eine völlig andere Position einnehmen. Wie cool ist das denn?
Vertrauen in die politische Information
In seinem Fall waren es in letzter Zeit Skandale, die seine Skepsis genährt haben. Falsche Angaben zur AHV-Reform, Unterschriftenbetrug bei Initiativen – kein Wunder, dass das Vertrauen in politische Informationen erschüttert wird. Und ich verstehe diese Bedenken. Es wäre naiv zu glauben, dass der Staat fehlerlos ist. Das Vertrauen sollte sich jedoch nicht daraus bestehen, dass Fehler vermieden werden, sondern wie wir mit ihnen umgehen. Transparenz und Korrekturen sind Teil des Prozesses – auch wenn sie frustrierend sind.
Die Realität: Schwankende Wahlbeteiligung
Schauen wir uns die Zahlen an: In den letzten Jahren lag die nationale Stimmbeteiligung bei etwa 50 %. 2021 stieg sie kurzfristig, wohl auch durch die Brisanz der Covid-Abstimmungen, auf 57,9 %. Für mich lassen sich daraus zwei Schlüsse ziehen. Erstens: Je direkter die Bevölkerung von politischen Entscheidungen betroffen ist, desto höher ist Beteiligung. Zweitens: Nicht jede Vorlage weckt gleich viel Interesse. Während der EWR-Beitritt 1992 mit 78,7 % die höchste Beteiligung verzeichnete, wurde beim Bundesbeschluss über den Schutz der Währung nur eine Beteiligung von 26,7 % erreicht.
Und wenn wir mal nicht abstimmen?
Also, wie schlimm ist es wirklich, wenn wir eine Abstimmung verpassen? Klar, idealerweise nehmen wir an allen Entscheidungen teil. Doch es ist auch menschlich, manchmal müde zu werden von der Vielzahl an komplexen Themen. Die Frage ist eher: Wollen wir uns dauerhaft aus dem demokratischen Prozess zurückziehen, weil uns manche Dinge zu kompliziert erscheinen oder wir dem politischen Betrieb misstrauen? Für mich bleibt das Abstimmen ein Privileg. Ein wertvolles Privileg, das ich nicht leichtfertig ignorieren möchte. Und ja, auch ich bin mal genervt von der Komplexität der Vorlagen oder dem Gefühl, dass meine Stimme vielleicht nicht den Unterschied macht. Aber Veränderung passiert nicht über Nacht, sie ist das Ergebnis kontinuierlicher Beteiligung. Nur wer mitmacht, kann wirklich Einfluss nehmen. Wer nicht abstimmt, überlässt die Entscheidung anderen.